Deine Retro: 1.200€ für die Tonne?

Die 90 Minuten sind um. Das Miro-Board ist voll mit bunten Stickies. Wir haben wieder über die gleichen Themen wie immer diskutiert. Ein paar vage "Action Items" sind notiert. Alle atmen auf, dass es vorbei ist. Nicken sich zu. Und tief im Inneren wissen alle: Nichts davon wird nächste Woche noch eine Rolle spielen.
Wenn dir das bekannt vorkommt, dann hat dein Team gerade nicht nur 90 Minuten seiner Zeit verschwendet. Es hat bares Geld verbrannt.
Die brutale Wahrheit: Die echten Kosten einer schlechten Retro
Rechnen wir nach. Ein Team von 8 Personen. Eine Retro von 1,5 Stunden. Ein konservativ geschätzter interner Stundensatz von 100€.
8 Leute x 1,5 Stunden x 100€/Stunde = 1.200€
Das sind 1.200€ für einen nutzlosen Kalenderspruch wie "Wir sollten besser kommunizieren". Jede zweite Woche. Das sind über 28.000€ pro Jahr, die dein Unternehmen für ein Ritual ausgibt, das im schlimmsten Fall nicht nur nutzlos, sondern aktiv schädlich ist. Denn die Kosten sind höher als nur das Geld:
- Verlorenes Vertrauen: Das Team lernt, dass seine Probleme nicht ernst genommen werden.
- Zerstörte Motivation: Nichts ist demotivierender, als immer wieder die gleichen Hindernisse zu benennen, ohne dass sich etwas ändert.
- Erlernte Hilflosigkeit: Das Team resigniert und wird passiv. Der "Mecker-Balkon" wird zum Dauerwohnsitz.
Wozu der ganze Zirkus? Der wahre Zweck einer Retro
Eine Retrospektive ist kein Kummerkasten und keine Therapie-Sitzung. Sie ist das wichtigste Werkzeug zur Prozessverbesserung, das ein agiles Team besitzt. Das 12. Prinzip des Agilen Manifests formuliert es glasklar:
In regelmäßigen Abständen reflektiert das Team, wie es effektiver werden kann, und passt sein Verhalten entsprechend an.
Der Fokus liegt auf dem Anpassen. Eine Retro ohne konkrete, umgesetzte Veränderung ist keine Retro. Es ist nur ein Meeting.
Vom Gefühl zur Tatsache: Die "War die Retro gut?"-Checkliste
Wie kannst du also messen, ob die Retro in diesem Sinne gut war? Eine gute Retro besteht jeden dieser Tests.
Der Action-Items-Test
- Frage: Haben wir die Action Items aus der letzten Retro zu Beginn dieser Retro überprüft? Sind sie erledigt?
- Messung: Ja / Nein. Wenn die Antwort "Nein" ist oder ihr die Frage gar nicht erst stellt, ist das System kaputt. Eure Action Items landen auf dem digitalen Friedhof.
Der Energie-Test (Return on Time Invested - ROTI)
- Frage: Wie hat sich das Energielevel des Teams nach der Retro angefühlt? Waren die Leute energiegeladen und optimistisch oder ausgelaugt und zynisch?
- Messung: Frag am Ende der Retro auf einer Skala von 1-5: "Wie wertvoll war die investierte Zeit für dich?". Der Trend über mehrere Retros ist dein wichtigster Indikator für die gefühlte Qualität.
Der "Autsch"-Test (Psychologische Sicherheit)
- Frage: Haben wir über mindestens ein Thema gesprochen, das unangenehm, aber wichtig war? Den "Elefanten im Raum"?
- Messung: Wenn in euren Retros nie Konflikte, Meinungsverschiedenheiten oder heikle Themen aufkommen, ist das kein Zeichen von Harmonie. Es ist ein Zeichen von mangelnder psychologischer Sicherheit.
Der System-Test
- Frage: Zielen unsere beschlossenen Maßnahmen darauf ab, das System (Prozesse, Regeln, Tools) zu verbessern, oder darauf, einzelne Personen zu "reparieren"
- Messung: Eine Maßnahme wie "Hans muss seine Tickets besser schreiben" ist ein Personen-Fix. "Wir definieren eine 'Definition of Ready' für unsere Tickets" ist ein System-Fix. Gute Retros fixen das System.
Die Pflicht des Moderators: Mehr als nur "Timeboxing"
Wenn deine Retros durch diese Tests fallen, liegt die Verantwortung beim Moderator (Scrum Master, Agile Coach). Eine schlechte Retro zu leiten, wenn das Team leidet, ist keine Lappalie. Es ist unterlassene Hilfeleistung.
Die Pflichten des Moderators sind:
- Vorbereitung: Das richtige Format für die aktuelle Situation des Teams auswählen. Nicht zum 100. Mal "Start, Stop, Continue".
- Sicherheit schaffen: Aktiv einen Raum schaffen, in dem auch kontroverse Themen respektvoll besprochen werden können.
- Fokus halten: Die Diskussion immer wieder vom Problem zur lösbaren Maßnahme führen.
- Nachverfolgung: Die Umsetzung der Action Items gnadenlos einfordern und sichtbar machen.
Sonderfall Remote: Keine Ausreden für schlechte Online-Retros
"Remote ist alles schwieriger." Ja, ist es. Aber das ist keine Entschuldigung, sondern eine Design-Herausforderung für den Moderator. Die Verschwendung durch passive Anwesenheit ("Bin da, aber arbeite nicht mit") ist online noch größer.
Wie man wertvolle Remote-Retros gestaltet
Hier ein paar Tipps, wenn du Moderator bist.
- Asynchron vorbereiten: Nutze die Zeit vor dem Meeting. Lass das Team Themen und Daten auf einem geteilten Board sammeln, damit das Meeting selbst für die Diskussion und Entscheidung genutzt wird.
- Kürzere Sessions, höhere Frequenz: Statt 90 Minuten alle zwei Wochen, versuche 45-60 Minuten jede Woche. Die Aufmerksamkeitsspanne online ist kürzer.
- Aktive Beteiligung erzwingen: Nutze Breakout-Sessions für Kleingruppen. Setze interaktive Tools wie Umfragen, Abstimmungen und Timer ein. Schweigen ist online oft unsichtbar – sprich Leute gezielt, aber wertschätzend an.
- Kamera ist kein Allheilmittel: Statt auf "Kamera an!" zu pochen, schaffe Interaktionen, bei denen man sich einbringen muss, um teilzunehmen.
Fazit: Hört auf, Geld zu verbrennen
Erinnerst du dich an das Beispiel am Anfang des Artikels? Wie wäre es, wenn alle aus der Retro gehen und das Gefühl haben, es geht voran?
Eine Retrospektive ist kein "nice-to-have"-Ritual. Es ist eine Investition von 1.200€. Jedes Mal. Damit diese sich lohnt, sollte jeder versuchen, die Retro sinnvoll zu nutzen.
- Als Teammitglied: Fordere eine wertvolle Retro ein. Bereite dich vor, bring die harten Themen auf den Tisch.
- Als Moderator: Nimm deine Pflicht ernst. Gestalte ein Meeting, das diesen Namen verdient und zu echten Veränderungen führt.
Wenn beides nicht möglich ist, dann seid ehrlich, schafft die Retro ab oder pausiert sie für zwei Monate und spart euch das Geld. Alles andere ist nur teures Theater.

